In Frankreich ist die Anti-AKW-Bewegung nach 1970 bereits eine Macht, als es von ihr in Deutschland noch wenig zu ¬sehen gibt. Ihr Kampf gilt vor allem dem „Superphénix“
Angesichts der Katastrophe in den japanischen Kernkraftwerken wundert man sich über die Ruhe in Frankreich, das rund 80 Prozent seines elektrischen Stroms in 19 AKW mit 58 Reaktoren erzeugt.
Niemand widerspricht Sarkozy, der weltweit als Verkäufer französischer Nukleartechnologie auftritt. Einer von seinen Präsidenten-Beratern hofft sogar, dass der Fast-Gau in Japan dem französischen Technologie-Export nützen wird. Und Premier Fillon empfindet das Verlangen nach einem Atomausstieg als „unanständig“.
Das war auch schon einmal ganz anders. Die Ökologie-Bewegung entstand nicht in der Bundesrepublik, sondern in Frankreich. Hier liegen auch ihre intellektuellen Wurzeln. Der konservative Journalist Bertrand de Jouvenel schrieb schon 1957: „Die politische Ökonomie müsste politische Ökologie werden“. Der Biologe Jean Dorst brachte 1965 das Buch Avant que la nature meurt heraus (dt. Übersetzung 1966: Natur in Gefahr). Darin legte er umfassend dar, in welchem Ausmaß und mit welcher Beschleunigung das natürliche Gleichgewicht durch agro-industrielle und andere Eingriffe gestört wurde. Die Schrift des Sozialpsychologen Serge Moscovici Essai sur l‘histoire humaine de la nature von 1968 erschien erst neun Jahre später auf Deutsch. Der Autor erklärte „das Problem der Natur“ zum vordringlichsten des Jahrhunderts und verband Kritik an der Gesellschaft mit Kritik an deren „Verhältnis zur Natur und der Tätigkeit des Menschen zur Konstituierung beider“. Eine vergleichbare geistige Sensibilisierung für ökologische Fragen ist im deutschen Sprachraum erst nach der Veröffentlichung eines ersten Berichts des Club of Rome (1972) und nach der ersten Ölkrise 1973/74 zu beobachten. Während der Begriff protection de l’environnement im Französischen seit Mitte der fünfziger Jahre gebräuchlich war, empfand die FAZ „das Wort Umweltschutz“ am 22. November 1969 als „bis vor kurzem noch befremdlich klingend“.
Der Ölpreis-Schock
Nicht nur eine ökologisch unterlegte Gesellschaftskritik, auch der öffentliche Protest von Umweltschützern ist französischer Herkunft. Die erste Demonstration gegen ein Kernkraftwerk fand am 12.April 1971 im elsässischen Fessenheim statt. Stärker als anderswo zehrten Frankreichs Umweltbewegte in jener Zeit von einer Aufbruchstimmung, wie sie den Studentenrevolten zu verdanken war. Während die emanzipatorischen Energien der deutschen Studentenbewegung nach 1969 von leninistischen Grüppchen sterilisiert wurden und in der Bauernphilosophie des Maoismus versackten, sammelten sich französische Erben der Protestgeneration in ökologisch orientierten Alternativprojekten, Landkommunen und anderen Arbeitsgemeinschaften. Deren Grundmotiv in einem Satz auf den Punkt gebracht: „Man kann die Gesellschaft nicht mehr ändern, ohne sein Leben zu ändern“. Formuliert wurde das von Pierre Fournier, der zusammen mit André Gorz alias Michel Bousquet zu den intellektuell herausragenden Figuren dieser Protestszene gehörte.
Die Jahre 1971/72 verhalfen französischen Umweltbewegungen zu Aufschwung und europaweiter Ausstrahlung. Dabei formierte sich ökologisch grundierter Protest nicht nur auf dem Land und an Kraftwerk-Standorten, sondern ebenso in den Metropolen. Im April 1972 – also deutlich vor dem Ölpreis-Schock vom Oktober 1973 – demonstrierten in Paris 10.000 Fahrradfahrer gegen die Verkehrs- und Energiepolitik ihrer Regierung. Einem analogen Aufruf in Westberlin folgten seinerzeit ganze 100 Leute. Bei den Präsidentschaftswahlen 1974 einigten sich viele Umweltgruppen darauf, einen eigenen Kandidaten zu präsentieren. Der damals 70-jährige Agronom René Dumont (1904-2001) erreichte zwar nur 1,3 Prozent oder gut 335.000 Stimmen, aber er machte durch sein Charisma und seine Anerkennung als Wissenschaftler das ökologische Thema in einem bis dahin ungewohnten Ausmaß bekannt. Er verkörperte die Vision einer linken Ökologie, die weit über den herkömmlichen Umwelt- und Naturschutz hinauswies – sein Credo: „Die politischen Bedingungen für einen wirklichen Wandel beginnen in Frankreich damit, dass die Interessierten selbst alle Probleme, die sie betreffen, in die Hand nehmen – auch den Kampf um die Lebensqualität.“
Nach Dumonts Wahlkampf unter der Devise Utopie oder Tod rückte bei einer Mehrheit der Franzosen die Sorge um die Umweltverschmutzung an die erste Stelle des Themen-Rankings – vor Arbeitslosigkeit, Preisspirale und Armut. Im Programme commun (1972) von Sozialisten und Kommunisten beanspruchten Umweltprobleme dann jedoch nur eine einzige von 192 Seiten, was nicht zuletzt erklärt, woher das bis heute fortbestehende ökologische Defizit der französischen Linken kommt.
1974 verbündeten sich Atomkraftgegner aus Frankreich, Baden und der Schweiz in ihrem Kampf gegen die am Rhein geplanten Kernkraftwerksvorhaben in Fessenheim, Wyhl und Kaiseraugst. Im Elsass nahm der Widerstand gegen das in Marckholsheim geplante Chemiewerk den Charakter eines regionalen Aufstands an. Nach mehrwöchiger Besetzung des Bauplatzes wurde das Projekt fallen gelassen. Während die Sensibilität der Franzosen für Umweltprobleme zwischen 1971 und 1977 ständig stieg, sank zugleich die Zustimmung zur Nuklearenergie um fast 40 Prozent.
„Der Kreuzzug nach Malville“ östlich von Lyon, wo seit 1975 der schnelle Brüter Superphénix gebaut wurde, bildete den Höhepunkt und zugleich das Ende der Protestwelle der siebziger Jahre in Frankreich, denn schon bald nach der spektakulären Demonstration vom 31.Juli 1977 ließ sich keine bedeutende Aktion der Protestbewegung mehr ausmachen. An jenem regnerischen Sommertag hatten sich 60.000 Atomkraftgegner aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz rund um Malville versammelten. Sie wurden von der französischen Polizei mit brutaler Härte zurückgedrängt. Der Physiklehrer Vital Michalon kam bei dieser Konfrontation ums Leben, mehrere Demonstranten, auch Polizisten, wurden schwer verletzt. Der Superphénix lieferte nur für zehn Monate Strom, kostete etwa 20 Milliarden Francs und wurde dann mit großem Aufwand definitiv stillgelegt.
Zu viel Machtlogik
Der Niedergang der französischen Umweltbewegungen begann bald nach der Öl- und Benzinpreiskrise 1973/74. Die Angst vor dem Kraftstoffmangel beförderte die „zivile Nuklearisierung der Energieversorgung“ (Guillaume Sainteny), die André Gorz als „Versklavung durch Elektrizität“ bezeichnete. Die Ökologie-Bewegungen gerieten ab Ende der siebziger Jahre trotzdem in die Defensive und rieben sich in Fraktionskämpfen auf, nicht der einzige Grund ihres Niedergangs. Das französische Mehrheitswahlrecht wirkte sich – im Unterschied zum deutschen oder schweizerischen Verhältniswahlrecht – für kleine ökologisch orientierte Parteien sehr ungünstig aus. Sie blieben chancenlos, falls sie nicht bei den Stichwahlen zu kuriosen Deals mit Großparteien bereit waren.
In dem Maße, wie sich soziale Bewegungen zu Parteien formieren, drohte ihnen das „Eindimensionalwerden“; sie übersetzten „nicht mehr Protest, Revolte und Unzufriedenheit jeglicher Art politisch“, schrieb 1980 André Gorz, sondern orientierten sich am Machtgewinn. Der Philosoph warnte vor dem Verzicht auf „die Freiheit des Ausdrucks, des Protests und der Phantasie“ und vor Unterordnung unter „die Machtlogik“: „Wir können besser leben und dabei weniger konsumieren und arbeiten, aber anders.“ Dies setzt freilich voraus, dass es starke außerparlamentarische Protest- und Ökologie-Strömungen gibt. Wie die politisch-parlamentarisch vergleichsweise erfolgreichen Grünen in Deutschland haben die zuletzt wenig einflussreichen Grünen in Frankreich der Ökologie-Bewegung durch einen Hang zur Realpolitik, zu Konformismus und Regierungsbeteiligung mehr geschadet als genützt.