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Riots in the City
von Fabian Frenzel (Jungle World)
On-line gesetzt am 8. Dezember 2010
zuletzt geändert am 23. November 2010

In Großbritannien formiert sich Widerstand gegen die geplanten Kürzungen der öffentlichen Ausgaben. Nach dem Massenprotest der Studierenden in London kündigen nun auch die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Proteste an. Premierminister David Cameron hat bereits erklärt, dass die Regierung nicht vom Sparkurs abrücken werde, sie habe ein demokratisches Mandat dafür.

Rund 50 000 Studenten und Hochschullehrer demonstrierten am Mittwoch vergangener Woche in London gegen die Hochschulpolitik der rechts­liberalen britischen Regierungskoalition, die eine Verdreifachung der Studiengebühren in England beschlossen hat (Jungle World 43/10). Die Demon­stration war von der britischen National Union of Students (NUS) und der Gewerkschaft der Hochschullehrer (UCU) organisiert worden. Nach Angaben der Veranstalter übertraf die Beteiligung selbst optimistische Schätzungen. Aaron Porter, der Sprecher der NUS, sagte, dies sei die größte Demonstration von Studierenden seit mehr als einer Generation.

Frances O’Grady, die stellvertretende Vorsitzende des britischen Gewerkschaftsbundes TUC, kritisierte unter tosendem Applaus die Sparpolitik der britischen Regierung: »Wagt es nicht, uns zu erzählen, dass wir alle in einem Boot sitzen! Das Defizit wurde definitiv nicht von den Studierenden verursacht.«

Im Zuge der Demonstration belagerten etwa 3 000 Studenten am Mittwochabend für fünf Stunden das Hauptquartier der Konservativen Partei am Milibank Tower an der Themse. Im ­Innenhof des Gebäudes bespielte ein Soundsystem die euphorische Menge, während Pappfi­guren, die dem Premierminister David Cameron und dem stellvertretenden Premierminister Nick Clegg nachgebildet waren, auf einem offenen Feuer verbrannt wurden.

Rund 200 Studierende drangen in das Gebäude ein, verwüsteten zahlreiche Büros und erstürmten das Dach des siebenstöckigen Bürohauses. Zuvor war am Eingang die Glasfassade zerstört worden. Auf dem Dach schwangen die Besetzer unter dem Jubel der Demonstranten im Hof anarchistische Fahnen. Die Stimmung änderte sich für einen Moment, als ein Demonstrant auf die Polizisten im Hof einen Feuerlöscher warf, der allerdings sein Ziel verfehlte. Die Demonstranten im Hof reagierten sofort und skandierten: »Stop ­throwing shit!« Es gab mehrere Dutzend Verletzte unter den Demonstranten und Polizisten. 56 Demonstranten wurden verhaftet.

Die für britische Verhältnisse durchaus als schwer zu bezeichnenden Krawalle haben viele Beobachter überrascht. Ebenso wie führende Vertreter der UCU verurteilte auch Porter die Erstürmung der konservativen Parteizentrale und bezeichnete sie als Aktion einer »Minderheit von Idioten« und »abscheuerregend«.

Porter ist deswegen selbst kritisiert worden. Einige seiner Kollegen im Vorstand der NUS distanzierten sich von ihm und warfen ihm vor, den Protest zu spalten. Eine Gruppe von Akademikern erklärte in einem offenen Brief, die Kürzungen der Regierung seien die »wahre Gewalt« in diesem Konflikt und schlimmer als einige zerbrochene Fensterscheiben. Auch vom linken Flügel der Labour Party und von den Gewerkschaften wurde die direkte Aktion der Studenten teilweise unterstützt. Der prominente linke Labour-Abgeordnete John McDonnell kommentierte auf Twitter: »Das ist die größte Demonstration seit Jahrzehnten. Sie zeigt, was möglich ist, wenn Leute wütend werden. Wir müssen darauf aufbauen.«

Die Militanz der britischen Studenten überraschte offenbar auch die Polizei. Nur 250 Beamte hatte die Londoner Metropolitan Police (MET) nach eigenen Angaben für die gesamte Demonstration abgestellt. Vor dem Eingang der Parteizentrale der Konservativen waren in der ersten Stunde der Belagerung nur 25 Polizisten eingesetzt, die überdies nicht für Unruhen gerüstet waren. Die Protestierenden, die in das Gebäude vordringen wollten, konnten die Beamten ohne große Schwierigkeiten zurückdrängen. Auch die später eintreffenden Einheiten der Territorial Support Unit, der speziellen Riot-Polizei der MET, waren zunächst zu klein, um die Demons­tration vor und in dem Konservativen Hauptquartier unter Kontrolle zu bringen.

Der Polizeichef der britischen Hauptstadt, Sir Paul Stephenson, bezeichnete die Reaktion der Polizei als unzureichend und »peinlich« und kündigte eine Untersuchung an. Peter Smyth, Sprecher der Police Federation, der Gewerkschaft der Polizei, nutzte die Krawalle unterdessen, um seinerseits gegen die Einsparungen der Regierung bei der Polizei zu protestieren. Er wies Stephensons Kritik am Einsatz zurück und sagte, die Proteste seien eine Erinnerung daran, dass die Anzahl der Polizisten nicht reduziert werde dürfe, damit sichergestellt sei, dass die Polizei für die kommenden Auseinandersetzungen um die Sparmaßnahmen der Regierung gerüstet ist.

Das Innenministerium muss in den nächsten vier Jahren 20 Prozent Einsparungen machen, was nach Angaben der Police Federation zu einem Verlust von 40 000 Stellen bei der Polizei führen wird.

Der Hintergrund der Proteste der vergangenen Woche sind die von der Regierung geplanten Kürzungen im Hochschulbereich in Höhe von 40 Prozent. Um diese auszugleichen, sollen Studierende künftig bis zu 9 000 Pfund Studiengebühren pro Jahr zahlen. Derzeit dürfen britische Universitäten nicht mehr als 3 300 Pfund pro Jahr berechnen. Der Staat will sich aus der Finanzierung der Hochschullehre weitgehend zurückziehen. Nur strategisch als wichtig erachtete Studienfächer, wie Medizin oder die Naturwissenschaften, sollen noch gefördert werden. Die Umstellung auf einen »freien« Hochschulmarkt, auf dem studentische Nachfrage das Angebot bestimmt, soll zudem die Qualität der Lehre verbessern.

Der für Hochschulen verantwortliche Staatssekretär, David Willetts, hält das neue System auch für sozial gerechter als das gegenwärtige. Er bezieht sich dabei unter anderem auf einen neuen, 150 Millionen Pfund schweren Stipendienfonds, mit dem Studenten aus ärmeren Verhältnissen gefördert werden sollen.

Ähnlich wie im alten System werden die Studierenden die Gebühren nicht unbedingt sofort zahlen, sondern können sie von einer vom Staat eingerichteten Bank vorschießen lassen. Auch für Lebenshaltungskosten können die Studenten hier Kredite aufnehmen. Die Rückzahlung der Schulden beginnt automatisch, über einen Aufschlag von neun Prozent auf die Lohnsteuer, sobald die Studierenden über 21 000 Pfund im Jahr verdienen.

Die NUS lehnt die Pläne der Regierung als sozial ungerecht ab. Durch Studiengebühren und Lebenshaltungskosten würden Studierende in einem dreijährigen Studium bis 40 000 Pfund Schulden anhäufen. Dadurch würden insbesondere die Ärmeren vom Studium abgehalten.

Die Schulden werden neben einem Inflationsausgleich auch mit bis drei Prozent verzinst; die Kosten des Studiums für reiche Studierende, die keinen Kredit aufnehmen müssen, werden somit weit geringer sein.

Das unabhängige Higher Education Policy ­Institute (Hepi) hat derweil die Pläne der Regierung, die mit den neuen Maßnahmen Geld sparen will, in Frage gestellt. Die Kosten der Subvention der Studentenkredite durch den Staat würden mittelfristig alle gegenwärtigen Kostenersparnisse aufheben. In der Folge könnte es zu einer Erhöhung der Zinssätze für die verschuldeten Studenten kommen.

Doch es sind nicht nur die Details der neuen Regelung, die den studentischen Unmut erklären. Seit der Einführung von Studiengebühren durch die Labour Party im Jahr 1998 hatten die britischen Liberaldemokraten die Abschaffung der Gebühren gefordert. Noch im Wahlkampf im Frühjahr dieses Jahres hatten die Liberaldemokraten mit dieser Forderung geworben. Die NUS hatte Studierende deswegen sogar dazu aufgerufen, die Liberaldemokraten zu wählen. In mehreren innerstädtischen Wahlbezirken verdanken die Liberaldemokraten ihre Sitze der studentischen Wählerschaft. Beinahe alle liberaldemokratischen Abgeordneten, unter anderem auch Nick Clegg, hatten zudem vor den Wahlen persönliche Versprechen gegeben, gegen eine Erhöhung der Gebühren zu stimmen.

Doch genau dies wird nun vermutlich nicht passieren. Die Regierung will ihre Vorschläge noch vor Weihnachten zur Abstimmung stellen. Zwar haben einige Liberaldemokraten ihre Ablehnung erklärt, doch um die Mehrheit der Koalitionsfraktionen zu brechen, bräuchte es 40 liberaldemokratische Gegenstimmen. Dass es dazu kommt, ist unwahrscheinlich, nicht zuletzt, weil daran wohl die Koalition zerbrechen würde. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass sich die ­Liberaldemokraten in der Frage von Studiengebühren nur enthalten dürfen, um die Mehrheit der Koalition nicht zu gefährden. Neuwahlen sind allerdings nicht im Interesse der Liberaldemokraten, denen Umfragen zufolge der Verlust fast aller Mandate droht.

Aaron Porter hat nun angekündigt, einzelne Liberaldemokraten zum Rücktritt zu zwingen. Er bezieht sich dabei auf einen Gesetzesvorschlag von Nick Clegg, nach dem Abgeordnete von den Wählern »zurückgerufen« werden können. Zehn Prozent der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis sollen demnach eine Neuwahl des lokalen Abgeordneten erzwingen können, wenn sie mit diesem unzufrieden sind. Das erste Ziel der NUS ist dabei Cleggs Wahlkreis in Sheffield, wo rund 10 000 Studenten wahlberechtigt sind. Noch ist das »Rückruf«-Gesetz allerdings nicht verabschiedet.

Weitere Studierendenproteste sind für den 24. November angekündigt. Landesweit wollen die Studierenden in den Streik treten und ihre Hochschulen besetzen.