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Zur Aktualität von Brecht und Weill
On-line gesetzt am 16. Mai 2010
zuletzt geändert am 6. Juni 2010

Kurzkritik der Premiere der Dreigroschenoper
in der Inszenierung von Jarg Pataki am Deutschen Schauspielhaus vom 24.4.2010

Welche Rolle spielt, kann das Theater heute noch spielen?
Vorzeitig von der Demonstration aus Anlass des Selbstmords einer von Abschiebung Betroffenen in den dunklen Raum des Schauspielhauses zur Premiere der Dreigroschenoper.
Ein total reduziertes Bühnenbild, vor der sich die Protagonisten theatralisch, wenn auch chiffrenhaft, produzieren. Auf offen-steiniger Bühne ein Fahrstuhl-Gerüst als Tribut an die barockoperntraditierte Einbettung der John Gay - Moritat zwischen Himmel und Hölle, wobei die Hölle ins Verbergen führt, der Himmel ins Nirgendwo des Theaters. Händelsche Apotheose als Regieeinfall rettet kein Schauspielervolk.

Die Figuren, sowohl der Räuberhauptmann wie der Bettlerkönig als auch der Polizeichef, sind Masken eines Systems, in der jeder seine Rolle spielt, zu spielen gezwungen scheint.
Es sind Rollen, die nicht entwickelt werden, schemenhaft wollen sie von Jarg Pataki inszeniert sein.

Ein Durchbruch durch die Maske hindurch und heraus in etwas, was die Seele berühren könnte, gelingt aber nicht. So etwas wie Mitgefühl oder Mitleid entsteht durch das allenthalben kalt bleibende Agieren nie. Wenn die Figuren schauspielerisch als Identifikationsfiguren schon nirgends taugen, so hinterläßt auch das musikalisch Dargebotene keine Betroffenheit. Ein einziges Lied von Lotte Lenya als Hörerlebnis von einer alten fern-kratzigen Aufnahme trifft so viel tiefer den Ton...
Und so fragten wir uns, als wir das Schauspielhaus verließen, wie denn wohl die Demonstration, die von einem massiven Polizeiaufgebot begleitet und bedroht wurde, wohl ausgegangen sei.

Wir sprachen mit Jarg Pataki

über seine Neuinszenierung der Dreigroschenoper im Deutschen Schauspielhaus, welche am 24. April 2010 ihre Premiere haben wird.

Aus theater- und rezensionsgeschichtlicher Perspektive ist die Dreigroschenoper der Inbegriff von sozialkritischem Theater überhaupt. Und insofern besonders erhellend, als bei der Uraufführung 1928 die anfängliche Empörung sehr schnell in absolute Begeisterung umgeschlagen ist - das Gegenteil also von dem, was Brecht und Weill intendiert hatten, nämlich den Bürger bei den Hörnern zu packen und gewissermaßen zu einem Klassiker der durchschlagenden Wirkungslosigkeit geworden. Was sagen Sie dazu oder was ist Ihr Ansatz, diesen sozialkritischen Aspekt betreffend?

P: Wir sind da gleich im Zentrum des Problems. Der sozialkritische Aspekt ist nur teilweise wirklich angelegt in der Dreigroschenoper. Das ist auch mit ein Grund, warum das sofort ein Erfolg wurde und sich kommerziell so ausgezahlt hat. Es geht zwar im weitesten Sinn um Proletarier, Arbeitslose, Bettler und ähnliche in der Gesellschaft schlecht gestellte Menschen. Aber in Wirklichkeit geht darum, das kapitalistische System zu zeigen anhand des Chefs eines Bettlerunternehmens bzw. des Bandenführers eines Räuberunternehmens, in beiden Fällen eigentlich recht bürgerlicher Existenzen.

Es handelte sich jedenfalls um den Versuch zu zeigen, dass das Bürgerliche und das Kriminelle sehr nah beinander liegen, eben das Prinzip des Kapitalismus als eine Form des Raubes zu zeigen. Das ist aber von vornherein eingebettet in Musik, die offensichtlich von Anfang an auch als schön und angenehm empfunden wurde bzw. als eine Form der Provokation, wie man sie gerne mag.

Insofern kann man auch sowohl Brecht und in Maßen auch Weill durchaus zutrauen, dass sie auf Erfolg spekuliert haben. Brecht hat sich in der Zeit sehr oft auch für finanzielle und erfolgsorientierte Dinge interessiert, wie der spätere Prozess um den Film gezeigt hat. Erst haben sie gegen den Film geklagt, unter dem Vorwand, dass er das Werk verfälschen würde, und dann, nachdem genügend Geld geboten wurde, sich aus der Klage zurückgezogen. Also das ist eine zwiespältige Sache. Es hat etwas, was man auch im heutigen Theater immer wieder beobachten kann: Es gibt eine Form der gesellschaftskritischen Provokation, die völlig politically correct is. D.h. alle sind einverstanden, es ist zwar scheinbar kritisch, aber in Wirklichkeit ein vollkommener Konsens. Deshalb, sagte ich, sind wir gleich im Zentrum des Problems.

Das führte dann dazu, dass die Dreigroschenoper in der Rezeption im Grunde eine Operette geworden ist und keinen Menschen in irgendeiner Art und Weise hinter dem Ofen hervorlockt oder berührt. Und das ist natürlich etwas, was mich langweilt.

Aber trotzdem haben Sie sich bereit erklärt, das Stück in Hamburg zu inszenieren?!

Ich hatte das in Hamburg schon mehrfach abgelehnt. Und jetzt habe ich mich auf die Herausforderung eingelassen, versuche aber natürlich zu überlegen, wo kriege ich das Werk heute relevant. Man könnte meinen, dass man es mit sozialkritischem Aspekt modernisiert, sozusagen „hartzferiert“. Aber das ist ein Trugschluss. Dann würde man nur der Oberfläche der Oberflächlichkeit ein neues Gewand anlegen.

Deshalb versuche ich genau den umgekehrten Weg. Wir überlegen uns, was tiefere Anliegen von Brecht sind. Wir haben uns ganz stark an Brechts Lyrik orientiert. Da in dieser Zeit Brecht noch gar kein wirklich politisch handelnder Mensch war, denkend vielleicht schon, handelnd nur in Maßen.

Eigentlich hat er sich erst in der linken Kritik an der Dreigroschenoper gewandelt und von da an versucht, das Werk zu verändern. Von da an gibt es auch die große Prozessgeschichte zwischen Weill und Brecht, die nicht mehr einverstanden waren. Mich interessiert es zu überlegen, was da an existenzielleren Geschichten drin ist, was vielleicht unterhalb der Frage der wirtschaftlichen Aspekte liegt. Mir ist von vornherein aufgefallen, dass es in dem Stück um eines nicht geht, nämlich um Geld. Sondern es geht ganz stark darum, was Menschen für Rollen innerhalb einer Gesellschaft einnehmen und wie aus dem Kampf um diese Rollen und dem Kampf zwischen den Rollen ein System entsteht.

Und wir fragten uns dann: Was ist eigentlich der Grund, dass man sich in ein solches System hineinbegibt? Wie kann eine kapitalistische Gesellschaft überhaupt existieren? Warum scheint dieses System so stark zu sein, dass es allen Ideologien und Utopien trotzt? Und da kommt man dann in sehr existenzielle Fragen hinein. Von dort aus bauen wir eine Inszenierung.

Gabi Delgado von der Deutsch Amerikanischen Freundschaft sagte uns in einem Interview, der Kapitalismus sei wie die Borg, die alles, gerade auch das Subversive, gnadenlos in sich aufsauge.

Es ist wie eine Art riesiges Konstrukt. Das Borg-Bild finde ich gut, außer dass es schon alles vereinnahmt hat. Es ist ein Konstrukt, das wir als naturgegeben hinnehmen. Es hat quasi-religiöse Dimensionen erreicht, so dass man glaubt, es gibt gar keine anderen Formen menschlichen Daseins. Und das entsteht natürlich, weil etwas anderes verdeckt werden muss. Es gibt ja einen Grund, warum man sich dieses Leiden des Kapitalismus zufügt. Und das hat, glaube ich, ganz stark mit unserer grundsätzlichen Hilflosigkeit oder Verlorenheit innerhalb unseres menschlichen Daseins zu tun. Das man eigentlich mit den existenziellen Dingen überfordert ist und keine wirklichen Antworten hat und sich dann um so mehr in gesellschaftliche Dinge stürzt. Deshalb könnte ich jetzt keinerlei politische Gesamtutopie formulieren, die als Alternative funktionieren könnte. Alles was systemisch oder dogmatisch ist, hat sich, glaube ich, als nicht funktionierend schon selbst überführt. Ich glaube, man muss es beinahe vom philosophischen Standpunkt anschauen und erst einmal über das menschliche Dasein nachdenken und grundsätzlich überlegen, wo steht der Mensch und wie könnte er sich als Mensch verändern. Und dann kann er vielleicht ein anderes System dem folgen.

Ein existenzieller Ansatz, in der Hinsicht, dass jeder bei sich selber anzufangen hat…

Wir werden in dieser Inszenierung, soweit es uns die Brecht-Erben erlauben werden, tatsächlich ganz stark die Frage thematisieren: Was ist eine gesellschaftliche Rolle und was könnte der Mensch sein, solange er nicht in eine Rolle schlüpft?

In Lotte Lenyas Aufnahmen der Brecht-Weill-Lieder wird eine unglaubliche Menschlichkeit und tiefe Zärtlichkeit, ein Bedürfnis nach Liebe spürbar. Es ist eine leise Tonalität. Seither hat man aber diese Lieder häufig sehr reißerisch interpretiert gehört.

Ja richtig, da ist etwas dran an der Beobachtung. Es geht sogar noch weiter. Die Musik ist reicher und komplexer, als man sie von der Hörerfahrung her zu kennen glaubt. Weill hat ein ganz starkes Referenzsystem zwischen Bach und Mahler vor allem und dann, am Ende, kurz auch einmal Mozart mit hinein gebaut, dann Verfremdungen. Wenn man die Partitur sehr genau anschaut, findet man sehr viele Feinheiten, die aber dann, wenn man das Ganze einfach so durchspielt, im Gesamtklang verloren gehen. Sie machen aber oft den entscheidenden Sinn aus.

Und wir sind ja jetzt schon an musikalischen Proben dran, wo wir versuchen, jede Rezeption, angefangen bei den Tempi und bei der Dynamik, bei der Schlagerbehandlung, in Frage zu stellen und das herauszuarbeiten. Und ich gehe von der Grundhypothese aus, die durchaus im Brecht‘schen Sinne ist, dass die Musikstücke nicht zu der Handlung gehören.

Das berühmte Jennylied ist die wunderbare Geschichte eines zerbrechlichen, feinen Mädchens, das so misshandelt wird, dass sie sich am Ende wünscht, dass die ganze Welt im Blut ersaufen möge, damit sie einmal wahrgenommen wird und sich für alles rächen kann. Dafür versuchen wir Bilder und Vorgänge zu finden, die jenseits der Geschichte dieser Figuren sind, die relativ klar und sehr eindimensional.

Gibt es auch chorische Ansätze?

Wir werden bestimmt an die äußerste Grenze dessen gehen, was die Erben zulassen. Es ist leider ein Fall von radikalster Zensur. Es gibt nichts Vergleichbares im Theater. Das macht mich auch richtig zornig und provoziert mich. Ich fühl mich extrem beschnitten - die Tatsache, dass ich als Künstler eigentlich nichts verändern darf und mich eigentlich auch nicht persönlich äußern darf. Das kann ich so natürlich nicht hinnehmen.

Wie weit geht das?

Das geht so weit, dass man nicht kürzen, keinerlei Texte hinzufügen und nichts umstellen darf. Und dass man in der Musik keinerlei Veränderungen vornehmen darf. Das kann ich so nicht einfach hinnehmen!

Ist das nicht ein absoluter Widerspruch zu Brechts Ansatz?

Ja, das ist ganz eindeutig genau die Antithese zudem, was Brecht vertritt.

Wer sind diese Erben heute? Bekommen sie diese persönlich zu Gesicht?

Nein, das geht über die Verlage. Da hört man die schlimmsten Stories, was da alles verboten werden sollte. Nach jeder Inszenierung, die ein bisschen kreativ ist, wird noch mehr verboten. Aber wir versuchen, damit kreativ und clever umzugehen. Aber das ist eigentlich ein Skandal.

Denken Sie daran, wie sie das schon öfter gemacht haben, auch in diesem Fall mit lebensgroßen Puppen zu arbeiten, um Distanz zu schaffen zu den Figuren des Stückes?

Das war am Anfang als Überlegungstand vorhanden. Ich mache aber mehr Arbeiten ohne als mit Puppen. Da steht natürlich ein ganzes ästhetisches und gedankliches System dahinter. Hier wird das Thema eher sein, dass wir zeigen wollen, wie jede Rolle, also das, was man eigentlich als das Individuum bezeichnet, eigentlich eine Rolle ist innerhalb eines gesellschaftlichen Konstrukts, und auch eine austauschbare Rolle. Wir wollen zeigen, wie ein Mensch, der als nicht gesellschaftliches Wesen vielleicht ganz anders reagieren würde, sich in eine Rolle hineinbegibt, die mehr oder weniger vorgefertigt ist, und dann in dieser Rolle sein Leben spielt.

Ist nicht gerade das zitierte Jennylied ein Ausbruchsversuch?

Ja, auch vom Inhalt her. Deshalb werden wir das nicht aus der Rolle heraus interpretieren, sondern werden dafür eigene Bilder, Körper, Vorgänge finden. Wir operieren mit zwei vollkommen verschiedenen Universen, einem sehr begrenzten gesellschaftlichen Universum und einem sehr weiten gesellschaftlich nicht definierten Universum. Deshalb werden wir versuchen, eine ganze Ebene, die im Stück so nicht geschrieben steht, hinzuzufügen. Dort können auch solche Lieder stattfinden.
Es ist der Versuch, Sinn zu schaffen und unsere Position zu erzählen.

Noch eine letzte Frage zu Weill selber. Welche Rolle wird die Musik spielen, die ja leider oft zu Gassenhauern verkommen ist?

Ich glaube, dass da viel mehr Stoff drin ist. Wir versuchen erst einmal, jedes Musikstück als eigenen kleinen Kosmos zu denken, welches eigene kleine Dramen erzählt. Daraus versuchen wir dann, den Sinn der Musik zurück zu gewinnen.