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Marc Thörner:
Afghanistan Code
Reportagen über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie
On-line gesetzt am 19. Mai 2010
zuletzt geändert am 28. April 2010

"Clear - hold - build" - so lautet die Trias, mit der die NATO-Staaten die Strategie der westlichen Aufstandsbekämpfung in Afghanistan zusammenfassen. Im ersten Schritt wird der Feind bekämpft und vertrieben ("clear"), dann bringt man das eroberte Gebiet mit Hilfe einheimischer Kräfte unter Kontrolle ("hold"), und schließlich geht man zu Aufbauarbeiten über ("build"), um die Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen und eine Rückkehr des Feindes ein für allemal zu verhindern. "Clear - hold - build" - ein Konzept der NATO? Wenn’s nur das wäre. Marc Thörner hat ausführlich in Afghanistan recherchiert; ISAF-Soldaten haben ihm das Hauptwerk eines französischen Militärs in die Hand gedrückt, der als ein führender Kopf der Pariser Aufstandsbekämpfung in den früheren Kolonien galt. Das solle er lesen, sagten die ISAF-Soldaten, um die aktuelle "Contre-Guerilla" zu verstehen.

Tatsächlich enthält, schreibt Thörner, schon Roger Trinquiers berühmtes Hauptwerk "La Guerre Moderne" den Dreischritt, den die NATO für ihre Aufstandsbekämpfung in Afghanistan reklamiert. Um die Aufständischen zu isolieren, müsse man der Bevölkerung "zeigen, dass die Kooperation mit den Besatzern beziehungsweise der von ihnen gestützten Regierung ihnen mehr Vorteile bringt als der Aufstand", fasst Thörner einen von Trinquiers Grundgedanken zusammen. Der ersten Phase der militärischen Niederschlagung des Feindes müsse eine zweite Phase des "Haltens" folgen, während der man "traditionelle Autoritäten" einzubinden habe: "Honoratioren, Stammeschefs, jeder junge Mann, der ehrgeizig ist und sich von dieser Zusammenarbeit verspricht vorwärts zu kommen". Mit Hilfe dieser Menschen müsse man das eroberte Gebiet vollständig kontrollieren. Danach folgt die dritte Phase, der Aufbau: "Die Menschen müssen sehen: Regierung und Besatzung bringen das Land voran", resümiert Thörner den französischen Offizier, der seine Konzepte in Kolonialkriegen in Südostasien und Algerien entwickelt hat.

"Wir ziehen viele Lehren aus ’Algerien’", bestätigte ein französischer Soldat dem nachfragenden Thörner. Dass die ISAF, also auch die Bundeswehr, sich einer kolonialen Militärpraxis bedient, räumte auch ein deutscher Diplomat gegenüber Thörner ein. Ein deutscher Offizier, der 2008 und 2009 in Afghanistan im Einsatz gewesen ist, schreibt über die Besatzungspraxis am Hindukusch: "Die Franzosen verfügen auf diesem Gebiet über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz aufgrund ihrer Afrika-Politik." Der koloniale Hintergrund ist also durchaus präsent, wenn auch nicht in der öffentlichen Debatte über den Afghanistan-Krieg.

Thörner hat in Afghanistan umfassend recherchiert und beschreibt seine Erlebnisse, die so gar nicht zu den üblichen PR-Geschichten vom mutigen deutschen Soldaten passen, der für Mädchenschulen am Hindukusch kämpft. Schon seine Ankunft in Afghanistan gestaltet sich bemerkenswert. Auf der Fahrt nach Kunduz geraten Thörner, sein Fahrer und ein Begleiter hinter einen gepanzerten Konvoi der Bundeswehr, "der, wie alle ISAF-Verbände, keinesfalls überholt werden darf". Plötzlich stoppt der Konvoi. Thörners Fahrer bremst scharf. Was folgt? "Ein paar Soldaten sitzen ab, sammeln sich am Rand der Straße abmarschbereit. Einer (...) nimmt sein Gewehr, legt sorgfältig auf uns an (...) Statt irgendeiner Warnung: ein ploppender Abschuss. Der Bogen einer Leuchtspur rast auf uns zu."

Wer derlei herzliche Willkommensgrüße erlebt hat, bekommt einen plastischen Eindruck davon, was die koloniale Besatzungspraxis für die afghanische Bevölkerung bedeutet. Thörner vermittelt neben erhellenden historischen Hintergründen eine Reihe von Erlebnissen ähnlicher Art, die von anderen Afghanistan-Reportern gewöhnlich verschwiegen werden. Sein höchst empfehlenswertes Buch bietet die ziemlich seltene Möglichkeit, einen nicht von legitimatorischen Zwängen diktierten Blick auf die Verhältnisse in Afghanistan zu erleben.

Marc Thörner:
Afghanistan-Code
Reportagen über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie
Hamburg 2010 (Edition Nautilus)
160 Seiten 16,- Euro
ISBN 978-3-89401-607-4

Klassische Warlords }

Über die Entwicklung in Nordafghanistan sprach german-foreign-policy.com mit Marc Thörner. Thörner ist freier Journalist und berichtet seit den 1990er Jahren aus islamisch geprägten Ländern vom Maghreb bis Afghanistan. Zuletzt veröffentlichte er das Buch Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie.

german-foreign-policy.com: Ihr neues Buch heißt "Afghanistan-Code". Was verstehen Sie unter diesem "Code"?

Marc Thörner: Ich verstehe darunter ein System, das auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist: eine strategische, eine politische Herangehensweise - in diesem Fall die Herangehensweise des Westens an Afghanistan -, die sich erst erschließt, wenn man sie lange analysiert, und zwar auch unter historischen Gesichtspunkten. In meinem Buch geht es zum Beispiel um die französischen Erfahrungen mit der Aufstandsbekämpfung in früheren Kolonien. Nach Aussage von Soldaten, mit denen ich in Afghanistan gesprochen habe, spielen diese Erfahrungen am Hindukusch eine wichtige Rolle. Das liegt für viele, die sich mit dem Thema Afghanistan befassen, überhaupt nicht auf der Hand.

gfp.com: Als Beispiel führen Sie in Ihrem Buch die französische Kolonialherrschaft in Marokko an, speziell die Politik, die General Lyautey zu Beginn des 20. Jahrhunderts dort verfolgte. Worum ging es dabei?

Thörner: Es ging eigentlich um etwas, was dem sehr ähnlich ist, was man heute in Afghanistan versucht: Es ging darum, die Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen. Die französischen Truppen hatten die Perspektive, nur vorübergehend im Protektorat Marokko zu bleiben. Um die Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen, hat General Lyautey versucht, die Traditionen, die in Marokko vorhanden waren, zu stabilisieren oder sie dort, wo sie schon überlagert waren von modernen Elementen, wieder neu aufzubauen. Dazu gehörte es auch, einen archaischen Islam zu stärken und die Zusammenarbeit mit Warlords zu suchen, ganz nach dem Prinzip "Teile und herrsche". Frankreich hat damals in Marokko, wenn man so will, mit ähnlichen Figuren zusammengearbeitet wie die Bundeswehr heute in Nordafghanistan.

gfp.com: Wie würden Sie denn die Kräfte charakterisieren, mit denen die Bundeswehr in Nordafghanistan zusammenarbeitet?

Thörner: Das sind klassische Warlords. Es gibt vor allem zwei große Akteure, Mohammed Atta und General Dostum. Mohammed Atta ist der Gouverneur der Provinz Balkh, in deren Hauptstadt Mazar-e-Sharif die Bundeswehr ihr größtes Feldlager in Afghanistan unterhält. Atta ist ein Warlord von der ehemaligen Nordallianz, der hauptsächlich vom Drogenhandel lebt und seine verschiedenen Dienste, seine Milizen, seine Geheimpolizei und seine Mitarbeiter durch den Drogenhandel finanziert. Nicht durch Drogenanbau - den Drogenanbau bekämpft er inzwischen klugerweise -; er verdient am Drogenzwischenhandel. General Dostum ist in der Nachbarprovinz von Balkh, Sar-e-Pol, ansässig. Ihm werden schwere Kriegsverbrechen nachgesagt. Das sind die beiden wichtigsten Ansprechpartner der Deutschen - wie gesagt, klassische Warlords.

gfp.com: Warum arbeitet die Bundeswehr gerade mit solchen Kräften zusammen?

Thörner: Die Bundeswehr hat natürlich zunächst einmal keine andere Wahl. Zumindest Mohammed Atta ist ja außerdem auch als Gouverneur ein Repräsentant der afghanischen Regierung. Er ist von Präsident Karzai offiziell eingesetzt worden. Nun muss man allerdings auch wissen, dass Karzai zu taktieren gezwungen ist, er kann nicht frei agieren - was damit zusammenhängt, dass all die lokalen Machthaber wie etwa Atta von ausländischen Kräften unterstützt werden. So hat Atta sicherlich die Unterstützung der Deutschen, vor allem aber auch der Amerikaner. Und er hat mittlerweile eine sehr große lokale Hausmacht. Karzai ist also durchaus nicht frei, ihn abzusetzen, auch wenn er das wahrscheinlich gerne tun würde, denn Atta hat sich im letzten Wahlkampf ganz vehement gegen ihn positioniert - er war ja ein Verbündeter seines Rivalen Abdullah Abdullah. Atta nimmt mittlerweile nur noch bestimmte Anweisungen aus Kabul an, er setzt die Anweisungen der Zentralregierung nur noch in wenigen Teilen um. Er widersetzt sich zum Beispiel der Besetzung der Polizeikommandeure durch das Innenministerium in Kabul - er installiert seine eigenen Leute in der Polizeiführung. Das heißt: Atta ist dabei, sich ein kleines Fürstentum zu schaffen, und die Polizisten, die in der Provinz Balkh ausgebildet werden, das sind die Polizisten, die Atta dort haben möchte, es sind nicht die Polizisten der Zentralregierung.

gfp.com: Deutschland bildet also quasi die bewaffneten Kräfte eines Warlords aus?

Thörner: Die deutschen Stellen setzen auf die juristische Argumentation: Man tue nichts anderes, als die offizielle Polizei des Kabuler Innenministeriums zu unterstützen. Das stimmt aber nicht, weil das Innenministerium de facto keine Macht über die Polizisten in Balkh mehr hat. Die Polizei, die von Deutschland in Balkh ausgebildet wird, das ist die Polizei des Fürstentums von Gouverneur Atta, und diese Polizei - das ist durch verschiedenste Berichte und Zeugenaussagen belegt - ist offenbar auch noch dabei, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu begehen.

gfp.com: Oft heißt es, man müsse mit Personen wie Atta zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass die Taliban wieder an die Macht kommen.

Thörner: Das scheint mir nicht so. Das Problem mit den Taliban ist im Norden zum großen Teil ein Problem mit der paschtunischen Minderheit. Es gibt ganz verschiedene Gruppierungen innerhalb der Taliban. Es gibt beispielsweise ein Segment von Personen aus Usbekistan, ein anderes Segment von Menschen aus Pakistan, die immer noch vom pakistanischen Geheimdienst unterstützt werden. Es gibt aber auch ein Segment, das aus der paschtunischen Minderheit in Nordafghanistan stammt, und diese Leute unterstützen die Taliban, weil sie sich verfolgt sehen von tadschikischen Warlords, insbesondere von Gouverneur Atta und seinen Milizen und dem Geheimdienst, der ihm untersteht. Das bedeutet: Je enger man mit Gouverneur Atta zusammenarbeitet - etwa in puncto Polizeiausbildung - und je länger man die Menschenrechtsverletzungen seiner Polizei toleriert, umso mehr wird man die lokalen Paschtunen in die Arme der Taliban treiben.

gfp.com: Gibt es denn Aussichten, dass sich unter der Herrschaft der Warlords moderne, demokratische Kräfte wenigstens langsam durchsetzen können?

Thörner: Ich denke nicht, dass das möglich ist, wenn man sich darauf verlegt, mit den Warlords als Stabilisatoren zusammenzuarbeiten. Die Warlords haben keinerlei Interesse daran, dass solche Kräfte stärker werden. Man konnte das an verschiedenen Beispielen sehen, unter anderem an dem berühmt-berüchtigten Fall Kambaksh. Pervez Kambaksh ist ein Student, gegen den ein Todesurteil verhängt wurde, weil er angeblich den Propheten gelästert haben soll. Man kann an diesem Fall sehen, dass die Warlords, wenn es ihnen dient, sich ganz geschickt auch archaischer religiöser Strukturen bedienen - etwa entsprechender Gerichte -, die im Grunde nichts anderes sind als das, was die Taliban propagieren. Wenn es ihnen dient, bedienen sich die Warlords ganz genau der gleichen Strukturen. Abgesehen davon installieren sie natürlich mit Hilfe ihrer Milizen und ihrer Unterführer ein diktatorisches System, das in keiner Weise etwas mit dem zu tun hat, was wir als internationale Standards betrachten würden. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass die Justiz in vollem Maße diesen Warlords hörig ist. Gouverneur Atta ist auch hierfür ein sehr gutes Beispiel. Die Zusammenarbeit mit den Warlords bedient vielleicht kurzfristige taktische Interessen, aber langfristig geht sie sicherlich nicht in Richtung Demokratisierung.


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